Portrait by Christian Egger in Spike Art Quarterly, October 2004, www.spikeart.at

Wilde Brombeeren

Die stadtkritischen Interventionen des Yves Mettler

Ob als Flaneur in Wien, Brombeerheckenschützer an der Peripherie von Genf oder Platzsucher in Mönchengladbach: Mit akribischer Recherche und trockenem Humor nimmt sich der 28-jährige Schweizer Yves Mettler der gescheiterten Utopien der Moderne und ihrer Kollateralschäden an. Sein Kollege Christian Egger hat ihn dabei beobachtet.

Es wird sich kaum verhindern lassen, dass meine persönliche Nähe zu dem Porträtierten journalistische Distanz vermissen lässt und mein Aufsatz eine ebenso aufrechte wie produktive Freundschaft skizziert. Zuletzt sah ich Yves Mettler auf einer Tanzfläche einer Bar nicht unweit des Wiener Karlsplatzes erregt zu Hits der mittleren bis späten 80er Jahre tanzen. Sehr gut möglich, dass diese Popsongs zu ihrer Blütezeit nicht auf allzu großes Interesse beim jungen Yves im schweizerischen Morges, seinem Geburtsort, gestoßen wären. Sich in provinzieller Abgeschiedenheit bei fortschreitender Adoleszenz ein Weltbild zu zimmern, das voreilig ausschließt, was es in unmittelbarer Umgebung nicht vorfinden kann, soll im Alpenbereich vorkommen. Bei halbwegs günstiger Sozialisation jedoch lässt sich aus denselben jugendlichen Missinterpretationen oder -adaptionen globaler Popphänomene ausreichend Material für künstlerisches Werk und Vita finden. Dass man Signale progressiver Kunst und Kultur aus den Metropolen zwar empfängt, deren regionale Nachahmung aber persönlich unbefriedigend erscheint, ist nach wie vor ein emotionales Bollwerk für das Aufwachsen in der Provinz.

„Everything is better when you’re living in the city“ (A Tribe Called Quest).

 Yves Mettlers Studienaufenthalt in Wien ermöglichte es mir, ihn und seine künstlerischen Arbeiten kennen zu lernen. Was mir dabei auffiel und mich zugleich faszinierte (besonders gut zu beobachten in einem frühen Video mit dem Titel „Ein Jahr in Wien!“), war der erstaunlich pragmatische und offene Zugang zur Stadt.

Soweit ich es in Erinnerung habe, besteht das Video hauptsächlich aus kommentierten Spaziergängen des Künstlers, wobei er Aufgeschnapptes, Beobachtetes und vermeintlich Stadtbekanntes in charmant holprigem Deutsch zum Besten gibt. Die durch das Flanieren gewonnenen psychogeografischen Erkenntnisse, von einem „fremden“ Erzähler selbstbewusst vorgetragen, vermitteln vor allen Dingen eines: Der/die Videobetrachter/in mag länger in der Stadt wohnen, vielleicht sogar aus derselben stammen – eine scharfe sensorische Wahrnehmung von Menschen und Straßenzügen, ein souveränes Manövrieren durch bekannte wie entlegene Viertel, ein flinkes Registrieren von baulichen Vorhaben und sozialen Veränderungen sind beileibe nicht deren Monopol.

Die hier zutage tretende Sensibilität zeigt sich in einer Vielzahl anderer Projekte des Künstlers. Zum Beispiel in „Les Roncières“ („Die Brombeersträucher“), einer Arbeit, anhand deren vielfältiger Ansätze Yves' entschlossene Akribie und Detailliebe besonders deutlich werden.

Ein gigantisches, stadtplanerisch aber schwieriges Spekulationsgelände in Genf, im Niemandsland-Delta zwischen Flughafen, Norman Fosters Prestigekomplex und diversen Autobahnanschlüssen wie wichtigen Zugstrecken, dient als Grundlage der künstlerischen Überlegungen und Eingriffe. Das Gebiet präsentiert sich als nahezu vollkommen von Brombeersträuchern übersät und ist ungeachtet des nicht unerheblichen Schadstoffausstoßes ringsum beliebtes Ausflugsziel von Beerensammlern.

Als ersten Schritt ließ Yves eine bunte, schematische Darstellung eines Brombeerstrauches und drei weiterer einander vor Ort konkurrierender Pflanzenarten großflächig plakatieren, so wie man üblicherweise ein Bauvorhaben an einem Grundstück ankündigt. In diesem Falle jedoch verwies die Plakatwand einzig und allein auf die durch 25-jähriges Brachliegen bedingte botanische Ausnahmesituation.

In mühevoller Handarbeit – wilde Brombeeren besitzen im Vergleich zur kultivierten Frucht kräftige Stacheln – stellte der Künstler sodann Konfitüre in einer Edition zu einhundert Gläsern her, die jeweils mit verschiedenen, mehr oder minder lose mit dem Projekt zu assoziierenden Sujets etikettiert wurden.

Der Subtitel der Arbeit lautete „projet d’habitation“ (Wohnungsprojekt), eine überspitzte Metapher für ein von Pflanzen dominiertes Gebiet, das dem Menschen entwunden wurde, den gerade in Genf dringend benötigten Wohnraum verschlingt und etwaige Endzeitszenarien evoziert: Im Falle eines finalen Zweikampfes Mensch versus Natur wird die Brombeere siegen.

Zum Abschluss von „Les Roncières“ kreierte Yves eine Designerlounge inmitten des schwer zugänglichen Areals. Die ortskundigen Gäste machten es sich auf den Designermöbeln bequem und bekamen zu Klängen von Jimi Tenor kühle, alkoholhältige Brombeermixgetränke serviert.

Sich Themenkomplexen anzunähern, Begriffe auf ihre Nützlichkeit und gesellschaftliche Funktion hin abzuklopfen, Realitätsbezüge zu unterstreichen, mediale Konstruktionen transparent zu machen, künstlerische Strategien der Postmoderne in ihrer Prozesshaftigkeit zu begreifen und dabei mit ästhetischem Vokabular aus Film, bildender Kunst, Design, Literatur zu hantieren, daraus scheint sich ein Großteil der Arbeitsfelder und Anliegen von Yves Mettler zu speisen.

 

„Auf dem Platz der leeren Versprechungen – all along the watchtower – find ich heraus, dass sich nichts herausstellt. The busier you are the less you see“ (Die Goldenen Zitronen – „Auf dem Platz der leeren Versprechungen“).

 

Einer umfangreichen Recherche unterzog der Künstler das Phänomen des Europaplatzes. Nachdem er in Graz erstmals über einen solchen spaziert war und seitdem in den unterschiedlichsten europäischen Städten erneut Europaplätzen begegnete, begann er sich für die Idee und deren stark variierenden stadtgestalterischen Manifestationen zu interessieren: Wie viele gab es davon? Waren sich die jeweiligen Stadtbewohner/innen der Existenz solcher Plätze bewusst? Wie rasch stieg ihre Anzahl? Und verbarg sich dahinter eventuell ein einigender und Sinn stiftender Leitgedanke? Derlei Fragen bewogen den Künstler zu Interventionen in Lausanne bzw. während eines Stipendiumaufenthaltes in Mönchengladbach.

Die in Lausanne fotografierte Serie zeigt überwiegend einzelne Passanten, die einen Platz bar jeglicher Attraktion und ohne Repräsentationscharakter kreuzen, der somit wie ein zu groß geratener Gehsteig wirkt.

In Mönchengladbach hingegen boten sich Yves ideale Voraussetzungen, um mit dem Begriff „Europaplatz“ zu jonglieren. In einem Hochhaus mit leer stehender oberster Etage, dessen großflächige Fenstergalerie Ausblick auf die dortige Europaplatzvariante bot, brachte er in großen EU-gelben Lettern das Wort „Europaplatz“ so an, dass es von innen zu entziffern war, aber von außen verkehrt erschien. Ein Effekt, der auch an den Raumwänden vom einfallenden Sonnenlicht besorgt wurde. Zusätzlich unterband Yves die Sicht auf den Platz, indem er den unteren Teiles der Fenstergalerie mit einer billigen Klebefolie abklebte, welche die sakrale Ästhetik von Kirchenfenstern imitierte. Dieser Eingriff konzentrierte die Aufmerksamkeit der Ausstellungsbesucher/innen auf das Identitätskrisen-erprobte Stadtbild Mönchengladbachs. Durch das Schaffen einer Europaplatz-Außenstelle entstand hier physischer und diskursiver Raum, um sich der evidenten Konzeptlücken in Präsentation und Ausführung der Plätze bewusst zu werden.

Auch in Zukunft bleibt es Yves Mettlers vorrangiges Interesse, für örtlich vorgefundene Bedingungen Problembewusstsein zu wecken.

 

„What you witness in an exhibition space is not necessarily a moment of completion. The production moment is often variable“ (Liam Gillick).

 

Anhand der beiden eben geschilderten Arbeiten wird deutlich, dass Yves' künstlerische Praxis nicht in erster Linie auf ein kommerzielles Funktionieren in Galerieräumen zielt, dies aber auch nicht dogmatisch ausschließen will. Temporäre ortsspezifische Interventionen, Performances, Textproduktion, Vorträge, ausgeprägte Reisetätigkeit, Kollaborationen und Austausch mit Künstler/innen in aller Welt und der Aufbau von Netzwerken prägen Yves' Arbeit ebenso wie seine publizistische Mitarbeit beim Wiener Kunstfanzine „Chicago“, „Times“, „Plotter“, „Helvetica“, „Din“.

Einen präzisen Überblick über die Vielfalt seiner Untersuchungen und Aktivitäten gewährt seine Homepage www.theselection.net. Verallgemeinernd entsteht das Bild eines hochgradig reflexiven Künstlers, der in seiner Themenwahl behutsam vorgeht, populistische Momente gerne außen vor lässt sowie neugierig und humorvoll im Dienste des aufgeklärten guten Geschmacks produziert.